Ralph Edelmann 2
23. Januar 2016
Ada Fiorita
23. Januar 2016
Zeige alle

Wolfgang Fest

LG_Profilbilder_Wolfgang_Fest

Wolfgang Fest

Nur derjenige ist ein glücklicher Mensch, der weder Wünsche hegt noch Furcht empfindet und dabei
von der Vernunft geleitet wird. (Seneca)

Wolfgang Fest schreibt über seine Kindheit nach Kriegsende.

1946!

Ein Jahr nach Kriegsende, kamen wir, nach einer langen Flüchtlingsodyssee, die in Breslau/Schlesien begann, uns über Thüringen und Sachsen führte, in Untermagerbein an.

Wir, das waren zwei Koffer, eine Puppe, meine Mutter, meine Schwester (7 Jahre) und ich (11 Jahre).

Die Städte, in denen wir seit 1945 wohnten, und die wir wieder verlassen hatten, waren grau und trostlos, waren Schutt und Asche. Hier aber, in Untermagerbein, war Friede und Natur, war heile Welt, war Ruhe, war Zukunft.

So jedenfalls schien es uns, als wir glücklich bei dem Bauern Ganzenmüller und seiner Familie Unterkunft fanden. Zwei Zimmer bekamen wir im oberen Stockwerk seines Hauses, und der Inhalt unserer zwei Koffer war schnell in den paar Möbelstücken verteilt.

Wir hatten wieder ein zu Hause. Ob es auch Heimat werden würde, das war damals noch nicht abzusehen.

Ich denke noch jetzt mit Schmunzeln daran, dass die Sprache, die hier gesprochen wurde, uns anfangs große Schwierigkeiten machte. Sie zu sprechen, gelang uns nicht, sie zu verstehen, klappte nach einiger Zeit. Nur meine kleine Schwester war die rühmliche Ausnahme. Schon nach knapp 14 Tagen war sie sprachlich kaum von den Kindern des Dorfes zu unterscheiden.

Wir hatten Glück bei den Ganzenmüller untergekommen zu sein, und wenn ich mich, im Nachhinein, an die Ganzenmüllers erinnere, so erscheint folgendes Bild vor meinen Augen:
Der Bauer Kasper Ganzenmüller, hager, stolz, nicht viel sprechend, buschiger Schnauzbart, arbeitsam, eine lange Pfeife rauchend,, mich an Karl Valentin erinnernd.
Die Bäuerin Maria(? )Ganzenmüller,rundlich, faltenlos, öfters schimpfend (goschend) stark abergläubisch.
Die Tochter Kathi, groß, schlank, freundlich, gerne lachend, arbeitsam. Ein richtiges Schwabenmädle (oder heißt das Mädla).

Das waren unsere Wirtsleute und wir fühlten uns bei ihnen wohl aufgenommen.
Wir banden uns in den Tages- und Arbeitsablauf der Ganzenmüller und ihres Bauerhofes ein, waren in gewissen Sinne eine Familie, wir lebten mit den Untermagerbeinern und erlebten in kleinen Episoden das, was ich heute als glückliche Kindheitserinnerung in mir trage.

Untermagerbein das Dorf mit der kleinen Kirche. Die Kessel. Die Wälder, Wiesen und Felder, der Kaiberg. Freiheit und unberührte Natur. Ich, der Bub, der in den letzten zwei Jahren nur Trümmer gesehen hatte, staunte nur und genoss.

Und die vier Jahreszeiten genossen wir auf eine uns ganz eigene Weise.

Pflicht und ungeschriebenes Gesetz für uns Buben war es, ab dem 01.04. barfuß zu laufen und so die Hasen über die frische Saat oder die noch nicht gepflügten Felder zu hetzen. Erste sportliche Versuche wurden unternommen, die Kessel mittels langen Bohnenstangen zu überspringen, und wir schnitzten Pfeifen aus den Zweigen der im vollen Saft stehenden Weiden.

Im Sommer, während die Hitze brütend über dem Kesseltal stand und nur noch das Moos des Waldes Kühle versprach, gingen wir Buben, von der Sonne braungebrannt, in die Kessel um Fische und Krebse zu fangen, stauten mit kleinen Dämmen das Wasser, und jagten die Gänse von der Wäsche, die die Frauen am Ufer des Baches zum Bleichen ausgelegt hatten. Vom Spielen und Herumtollen erschöpft, schauten wir dann, im Schatten sitzend, dem alten Eli zu, wie er mit getrockneten Weidenzweigen Körbe flocht oder Besen band.

Kam der Herbst mit seinem reichen Angebot an Früchten, so wusste jeder von uns – sehr zum Ärger der Bauern – wo das schmackhafteste Obst reifte. Auch der Herr Pfarrer bewachte seinen Birnbaum mit Argusaugen, konnte aber nicht verhindern, dass so manche saftige Birne in unseren Mägen verschwand. Die Wiesen der Kessel waren an manchen Stellen mit Champions übersät. Hexenringe wurden diese Stellen genannt. Wir pflügten die Pilze und hängten sie zum
Trocknen auf. Wir knackten Bucheckern und rösteten Kartoffeln am offenen Feuer und glaubten, das leben sei ein Abenteuer und immer so herrlich und unbeschwert.

Im Winter roch das ganze Dorf nach dem Duft von verbranntem Holz. Die Misthaufen dampften in den Höfen und das Muhen der Kühe klang auch gedämpfter als zu anderen Jahreszeiten. Wenn dann der Schnee auf Untermagerbein lag, dann fühlte jeder die Ruhe des Friedens. Wir Kinder liefen auf dem Eis der über die Ufer getretenen Kessel Schlittschuh oder rodelten. Am Abend saßen wir in der warmen Wohnstube, zupften Schafwolle, und ließen uns von den Gesprächen der am Spinnrad sitzende Frauen einlullen.

Dass wir Kinder aber nicht nur Spiel und Freizeit hatten, dass wir auch in den Arbeitsprozess eingebunden waren, sollen dann die folgende Erinnerung aufzeigen.

Meine gleichaltrigen Freunde waren alle die Söhne von Bauern. Wenn wir außerhalb der Schulzeit auch durch Wald und Flur streiften, so mussten sie, zu einer bestimmten Zeit, zu Hause sein, um dort ihre Pflichten zu übernehmen. Diese Pflicht beinhaltete das Füttern der Tiere, das Misten, und auch das Arbeiten auf den Felder und Wiesen.

Meine Pflicht, innerhalb unser kleinen Familie bestand u.a. darin, dass ich aus den Wäldern das Holz für den täglichen Brand und für den kommenden Winter nach Hause schleppte. Mit einem Beil und einem Holzsammelschein zog ich täglich los, bündelte das trocken auf dem Waldboden liegende Holz und buckelte es, auf mitunter sehr langen Wegen, nach Hause. Dort sägte und hackte ich das Holz, und stapelte es als Vorrat für den Winter. Ich weiß es nicht mehr, wie viel Ster ich da als 11 jähriger Bub aufgeschichtet habe.

Arbeitete meine Mutter mal nicht bei unserem Bauer Ganzenmüller, so gingen wir im Herbst in die Wälder um Bucheckern zu sammeln, für die wir dann, bei Abgabe in der Ölmühle, Speiseöl bekamen. Genauso sammelten wir, nach der Getreideernte, die auf den Feldern liegen gebliebenen Ähren auf, um von deren Körnern in der Mühle Mehl zu erhalten.

Konnte ich mich bei der Ernte auf dem Felde nützlich machen, dann war das für mich Freude und Arbeit zugleich. Ich sehe es noch heute vor mir. Der Bauer schneidet mit der Sense das Korn, die Frauen folgen ihm, nehmen mit der Sichel das geschnittene Getreide auf, binden es zu Garben, und wir Kinder stellen sie zu trocknen auf. War Brotzeit, dann bekamen wir, aus einem selbst gebackenen Laib Brot, eine dicke Scheibe herausgeschnitten. Dazu gab es ein Stück geräucherten Speck, die Erwachsenen tranken Most dazu und wir Kinder durften den im Schatten gekühlten Schambesle trinken.

Abends, wenn wir wieder auf dem Hof waren, hörte man im ganzen Dorf das ping ping ping wenn die Bauern die Sensen und die Sicheln dengelten. Spät ging man in sein Bett, freute sich auf den nächsten Tag, und schlief müde und erschöpft ein.

Wenn der kalte Abendnebel über dem Tal der Kessel hing, das Stallvieh
gefüttert war, und wenn Ruhe und Frieden aus den schwach beleuchteten Fenstern der Höfe schien, dann war auch für uns Kinder ein erlebnis- und arbeitsreicher Tag beendet.

Nur in meinem Falle noch nicht, und als er wirklich beendet war, da hatte ich eine geschwollene und blutige Nase. Und das kam so:

Wie ich bereits erzählte, war die Bäuerin Ganzenmüller, sehr sehr
abergläubisch. So durften über Nacht keine Besen auf dem Hofe stehen
bleiben, denn damit hätten die Hexen ja den Hof als Landeplatz nutzen und die Kühe zum Verkalben bringen können. Genauso hatten die Nachtvögel einen schlechten Ruf bei ihr, weil das Krächzen von Kauz oder Eule immer schlechte Botschaften enthielten. So glaubte sie, die Bäuerin Ganzenmüller.

Das alles wissend, nahm ich, an einem späten und kalten Herbstabend, das einzige Schmuckstück meiner Mutter, eine Bernsteinkette, an mich um sie zweckentfremdet einzusetzen. (Diese Kette war für Notfälle gedacht, um sie vielleicht mal gegen Brot, Mehl oder Butter eintauschen zu können).

Ich hielt diese Kette eine ganze Weile unter das Licht der Küchenlampe, und als der Bernstein zu leuchten anfing, stellte ich mich an die unterste Treppenstufe und wartete auf die Bäuerin, die sich im oberen Bereich des Hauses befand. Ich wusste auch, dass sie stets im Dunkeln die Treppe herunter stieg.

Dann war es so weit, ich hörte sie kommen. Mit der Kette, die im Dunklen leuchtete, drehte ich wilde und feurige Kreise, schrie buh hu und glaubte die Bäuerin schon zittern zu hören.

Sie zitterte nicht! Sie warf die aus ihrem Schlafzimmer geholte, noch mit kaltem Wasser gefüllte kupferne Wärmeflasche genau in die Mitte des leuchtenden Kreises.

Dort befand sich leider mein Gesicht plus Nase, die nun geschwollen war und blutete.

Ich rannte aus dem Haus, und das Letzte was ich noch von ihr hörte waren die Worte. SAU BUA

Tabakwaren waren 1946 Mangelware. Besaß man Zigaretten oder Zigarren, so war man reich, denn diese konnten sogar gegen Luxusgüter eingetauscht werden. Aber wer war damals schon in Untermagerbein?

Kasper Ganzenmüller war auch nicht reich. Doch er war ein
leidenschaftlicher Raucher und deswegen baute er Tabak an. Es war
faszinierend anzuschauen, wie er, dem man keine Sanftmut zu traute,
liebevoll mit seinen Tabakpflanzen umging, die natürlich den besten und sonnigsten Platz im Gemüsegarten seiner Frau hatten.

Da sammelte er Schnecken, es goß und düngte, befreite das Beet von Unkraut und bei all dieser Arbeit nahm er seine qualmende Tabakspfeife nicht aus dem Mund. Im Herbst hatten dann die Pflanzen eine stattlich Größe von fast zwei Metern erreicht und es konnte geerntet werden.

Die Blätter wurden abgeschnitten und zum Trocknen aufgehängt. Danach legte er sie aufeinander, beschwerte die Bündel mit Brett und Stein und presste sie so noch einige Zeit. Anschließend wurde diese herb riechende Pracht von Stiel und Strunk befreit und fermentiert. Jeder hatte da sein eigenes Rezept. Das Rezept von Kasper Ganzenmüller hieß Pflaumensaft. Jedes Blatt wurde mit diesem Saft eingerieben, musste einziehen, und dann noch eine kleine Weile antrocknen.

Dann begann die Arbeit des Schneidens. Dünn musste die Tabakfaser werden, und um sie so dünn schneiden zu können, nahm Kasper sein aller schärfstes Messer, wetzte es noch einmal, und schnitt schließlich den Tabak in ganz zarte dünne Streifen.

Geschafft! Durchs ganze Haus zog wieder der rauchige Duft von Tabak.
Kaspers lange Pfeife gurgelte, und er war wieder glücklich und zufrieden. Je näher aber der neue Frühling kam, um so mehr schwand die Menge seines Tabaks. Um diese Reste zu strecken, schnitt der Bauer Ganzenmüller aus den Hollunderzweigen das weiße Mark heraus und vermischte es mit den Tabaksresten, und paffte so vergnügt der neuen Ernte entgegen.

Uns Buben nötigte dieser weihevoller Vorgang mit dem Tabak Respekt und Hochachtung ab. Tabakpfeifen hatten wir uns längst geschnitzt, aber an den Tabak kamen wir nicht heran. Das wäre Selbstmord für uns gewesen. Also stopften wir unsere Pfeifen mit getrockneten Maisblättern oder den Blättern der Pfefferminze, die reichlich an dem Ufer der Kessel wuchs. Dieses Zeug brannte nicht nur in den Köpfen unserer Pfeifen, sondern auch ganz fürchterlich auf unseren Zungen. War uns auch des öfteren kotzübel, mussten spucken und waren gelb im Gesicht, so fühlten wir uns trotz allem als ganze Kerle. Die Zufriedenheit aber, die Kasper Ganzenmüller beim Rauchen zeigte, die erreichten wir nie.

In meinen vorangegangenen Erinnerungen habe ich schon einmal den alten Eli erwähnt. Er wohnte unterhalb des Kaiberges, ganz in der Nähe vom Hof des Kasper Ganzenmüllers. Wie alt der Eli damals war, weiß ich nicht mehr. Für uns Buben aber war er uralt. Eigenbrötlerisch kam er uns vor und sonderlich.
Sein sozialer Stellenwert im Dorf war sicher nicht sehr hoch, seine Arbeit beim Korbflechten und Besen binden war aber anerkannt. Uns Buben faszinierte es und stieß uns gleichzeitig ab, wenn er für die Bauern, deren Katzen oder Hunde einen zu zahlreichen Wurf hatten , diesem Nachwuchs in den Tierhimmel verhalf.

Während die anderen Kinder im Dorf dem Eli mit einer gewissen Scheu gegenüberstanden, und er auch keinen Versuch unternahm diese kindliche Scheu zu überbrücken, hatte er mich, eigenartiger Weise, in sein Herz geschlossen.
So oft ich konnte, ging ich zu ihm, saß auf der Erde, sah ihm beim Binden und Flechten zu, lauschte, wenn er von früher erzählte, lernte von ihm, wenn er mir die Natur erklärte. Er zeigte mir, wie man aus Weidenzweigen kleine Flöten schnitzte, und wie man aus Lederresten und einem alten Autoreifen Schuhe nähte. Dies alles geschah spielerisch, ruhig, und es steigerte meine Hochachtung ihm gegenüber.

Außerdem gab er mir etwas mit, was ich heute noch besitze, was ich nie missen möchte. Er gab mir die Freude am Lesen mit.

Ich weiß nicht, was er alles an Literatur in seinem Haus aufbewahrte – ich war nie in seinem Haus drin – ich weiß aber noch, dass es die Zeitschrift „Gartenlaube“ war, die er mir zum Lesen gab. Geschichten über Königshäuser, über Blumen und Pflanzen, über Krankheiten und Medizin, Reiseerlebnisse und Sternenkunde waren der Inhalt, und ich glaube mich erinnern zu können, dass die Jahrgänge der einzelnen Ausgaben so zwischen 1890 und 1912 lagen.

Es war für mich eine neue Welt, in die ich eintauchen durfte. Die spannenden Geschichten, der Geruch von altem Papier und Druckerschwärze, ließ mich oft Zeit und Raum vergessen. Die Geschichten, die ich las, waren dann auch oft Grundlage für unsere Spiele. So wurde die Kessel zum Amazonas, die umliegenden Wälder zum Dschungel, den wir dann als Indianer oder Tarzan durchstreiften. Auch waren die Bilder in der „Gartenlaube“ Anregungen, wenn wir Kaleidoskope oder aus alten Brillengläsern Mikroskope bauten.

Der alte Eli, so sonderbar und sonderlich er manchen vielleicht erschienen ist oder gar gewesen sein mag, er hat bei mir den Grundstein für meine Weltanschauung gelegt. Für mich ist er noch jetzt der erste Philosoph, den ich lebend kennen gelernt habe.

Beim alten Eli hatte die Zeit für mich ihre Sekunden verloren, und ich nahm die Gegenwart erst wieder wahr, wenn meine Mutter rief: „Wolfgang, essen kommen“!

Bewusst habe ich es bei meinen Erinnerungen unterlassen, Vergleiche mit dem HEUTE anzustellen. Denke ich aber an meine Schulzeit in Untermagerbein zurück, dann drängen sich doch Vergleiche auf, und ich frage mich jetzt, wie wir etwas lernen konnten – und auch gelernt haben – wenn man UNSERE Schule mit den Schulen von Heute  vergleicht.

Die erste bis vierte Klasse, in einem Klassenraum sitzend, wurde von einem Lehrer unterrichtet, der im Wechsel zwischen Vor- und Nachmittag, auch die fünfte bis achte Klasse unterwies, die ebenfalls zusammen in einem Klassenzimmer saßen.

Für uns spannend und für den Lehrer wichtig, war die tägliche Aufgabenverteilung an die einzelnen Jahrgangs-Stufen. Da hieß es aufpassen und sich nicht durch ein vielleicht spannenderes Thema ablenken zu lassen. Während die 5. Klasse Erdkunde hatte (spannend), die 6. Geschichte (auch spannend), hatte die 7. Deutsch und die 8. Mathematik (bäh langweilig) .
Nur wenn eine Arbeit geschrieben wurde, dann hatten alle Klassen das gleiche Thema. Nur der Inhalt hatte von Klasse zu Klasse einen anderen Schwierigkeitsgrad.

Das Ergebnis der Arbeit aber löste, genau noch so wie Heute, bei den Eltern die unterschiedlichsten Reaktionen aus.

Ich erinnere mich jetzt noch voller schmunzeln daran, wie der Sohn eines Bauern mit einer grottenschlechten Arbeit nach Hause kam und sie seinem Vater zur Unterschrift vorlegen musste. Da der Herr Papa seinen Sohn aber verstandesgemäß höher einschätzte als es die Note der Arbeit auswies, musste der Lehrer Schuld an der SECHS haben.

Am anderen Nachmittag hörten wir Schüler, wie während des Unterrichts ein von zwei Kühen gezogenes Fuhrwerk vor der Schule vorfuhr, dann ein Aufreißen der Schultür, und herein kam ein wütender und Peitsche schwingender Bauer und verlangte – dem Lehrer Prügel androhend – künftig bessere Noten für seinen Sohnemann.

Wir Kinder standen auf den Bänken und jubelten dem Vater und dem Sohn zu.

Ob diese väterliche Drohung dem Buben bessere Noten einbrachten, das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass ich diesen Bauer nie mehr in der Schule gesehen habe.

Während ich darüber nachdenke, wie ich meine Erinnerungen an Untermagerbein abschließen kann, fallen mir immer wieder kleine Begebenheiten ein, die es vielleicht wert sind, erwähnt zu werden; und so will ich noch von ein paar Episoden berichten, an die ich mich mit Freude oder Grauen erinnere.

Vor der kalten Jahreszeit grauste meiner Schwester und mir. Denn das war dann immer die Zeit, in der es hieß – aus Ermangelung an langen Hosen – das Leibchen anzuziehen. Das Leibchen war ein breites Teil aus Stoff, wurde über Po und Hüfte getragen, und diente dem Zweck, die langen, dicken und an den Beinen kratzenden Wollstrümpfen festzuhalten, die mittels von zwei Gummistrippen an dem Leibchen befestigt wurden. Das Leibchen rutschte, die selbst gestrickten Wollstrümpfe kratzten. Wir hatten zwar warme Füße und Beine, aber meine Schwester und ich waren immer froh, wenn es Frühling wurde
und wir Strümpfe und Leibchen ausziehen konnten.

Winterzeit war auch immer Schlachtzeit. Unterteilt wurde diese Zeit in das offizielle Schlachten, welches an späten Nachmittagen stattfand, und das Schwarzschlachten, das immer, da Verboten, eine Nacht- und Nebelaktion war.
Es war verboten, weil der Gesetzgeber den Bauern nur eine bestimmte Quote Schlachtvieh zum Eigenbedarf, dass hieß, zu Schlachtung frei gegeben hatte.
In der Zeit damals war aber der Hunger groß, und so wurde dieses Verbot von allen Bauern nicht eingehalten. Für uns Kinder war das Schlachten aufregend und sättigend zugleich. Zuschauen durften wir nicht, wir taten es, aus sicherem Versteck heraus, trotzdem, und die Kesselsupp, die darin schwimmenden Würste, ließ uns das Wasser im Munde zusammenlaufen. War dann Abendbrotzeit, dann lagen diese Köstlichkeiten auf dem Teller, wir aßen sie hungrig und genussvoll, und ging mit sattem Bauch schlafen.

Winterzeit! Es hatte geschneit und Schlittenfahren war angesagt. Meine kleine Schwester stand mit ihrem Schlitten an der Hand an der Dorfstraße. Sie sah einen Wagen, der von zwei Kühen gezogen wurde, langsam die Straße entlang fahren und wollte die Gelegenheit nutzen, sich von diesem Fuhrwerk mit ihrem Schlitten ziehen zu lassen. Sie band die Schnur des Schlittens am Ende des Wagens fest und fuhr so fröhlich in den schwäbischen Winter. An einer Stelle hatte der Wind den Schnee von der Straße geweht, ihr Schlitten stoppte durch die rauhe Straßendecke – ruckte – , wurde durch die Kraft der Kühe wieder nach vorne gerissen, und dann passierte es. Ein Schwall Jauche ergoß sich über meine kleine Schwester.

Was war passiert? Meine Schwester hatte ihren Schlitten am Öffnungshahn eines Jauchefasses festgebunden, welches auf dem Wagen lag. Durch den kräftigen Ruck zog das Schlittenseil den Verschluss auf und was dann aus der Öffnung schoss, ließ meine Schwester nach Schwein riechen. Um diesen Geruch zu beseitigen, und um ihr wieder unseren „Stallgeruch“ zu geben, musste Schwesterlein von unserer Mutter mehrmals gebadet und geschrubbt werden.

Zwei Jahre waren wir, meine Mutter, meine Schwester und ich, in
Untermagerbein. Dann zogen wir, weil meine Mutter wollte, das ich „etwas vernünftiges lerne“, aus dem lieb gewonnenen Dorf fort.

Ich sollte „etwas vernünftiges lernen“! Dabei hatte ich doch schon etwas vernünftiges gelernt, in Untermagerbein. Von Menschen hatte ich gelernt, die nicht flüchtig und oberflächlich waren, sondern arbeitsam und bodenständig. Gelernt hatte ich zu arbeiten, denn ich hatte hautnah mit erlebt, wie letztendlich über pflügen, säen, ernten, dreschen, malen, backen ein Brot entstand, und wie lange und schwer man für dieses Brot arbeiten muss.

Ich erlebte bei den Tieren Zeugung, Tragezeit, Geburt, Aufzucht, Pflege, Tod und bekam dadurch ein besonderes und achtungsvolles Verhältnis zu allen Tieren.

Ich lebte in Untermagerbein im Einklang mit der Natur, spürte den Wechsel der Jahreszeiten, und sah im Spätherbst die Natur schlafen gehen, sich mit dem Winterkleid zu decken, und erlebte im Frühling wie sie wieder erwachte.
Man lehrte mich Hafer, Roggen, Weizen und Gerste zu unterscheiden und die Tanne von der Fichte. Den Nordstern konnte ich am Himmel finden, den großen Wagen erkennen. Kasper Ganzenmüller zeigte mir, welche Wolken Regen bringen und welche schönes Wetter  versprachen. Der alte Eli führte mich in die Welt der Bücher ein, und die Bäuerin zeigte mir, das Unkraut auch essbare Kräuter sein können.

In der kleinen Dorfschule lernte ich – so ganz nebenbei – wie man mit Brüchen und Prozenten umgeht, und der Pfarrer erklärte mir die 10 Gebote so lange, bis ich sie auswendig kannte und auch verstand.

Später dann, nach Untermagerbein, habe ich noch viel gelernt, hab lernen müssen. Den Grundstein des Lernens und des Wissens aber, der wurde von den Menschen in Untermagerbein gelegt, denn von denen habe ich tatsächlich „etwas vernünftiges“ gelernt

Geschrieben von Wolfgang Fest veröffentlicht von Andrea Rottmann

Zur Gedenkseite von Wolfgang Fest

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

WP-Backgrounds Lite by InoPlugs Web Design and Juwelier Schönmann 1010 Wien