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Dieter

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Dieter

geboren am 18 November 1944
gestorben am 30 Juli 1945

Die Flucht meiner Mutter

Der zweite Weltkrieg endet im Mai 1945. Zu diesem Zeitpunkt lebte meine Mutter mit meinen beiden ältesten Brüdern Dieter 8 Monate und Siegfried 1 1/2 Jahre (geb. 08.02.1943) in Tetschen-Bodenbach. Mein Vater war zu dieser Zeit noch als Soldat in Russland. Mein dritter Bruder und ich wurden erst Jahre später geboren. Er 1949 und ich 1947.

Bodenbach (Podmokly) ist heute ein Stadtteil von Děčín in der Tschechischen Republik. Der Ort liegt links der Elbe und ist nur 15 km von der Grenze zu Sachsen und von der Sächsischen Schweiz entfernt. Da meine Mutter mit einem deutschen Mann verheiratet war, hatte sie viele Repressalien zu erleiden und wollte in den Westen (amerikanischer Sektor) flüchten.

Diesen Fluchtversuch in der Zeit zwischen den 22.06.1945 und 07.09.1945 hat meine Mutter dokumentiert:

22.06.1945 mittags ab Bodenbach abgefahren – übernachtet in Dresden-Reick bei Frau Koch (einige Sachen dort zurückgelassen) [Dresden ist 60 km von Děčín entfernt].

23.06.1945 von Dresden nach Chemnitz-Hilbersdorf gefahren, bis 25.06.1945 dort geblieben, übernachtet im Kartenzimmer bei der Reichsbahn [Chemnitz ist ca. 90 km von Dresden entfernt].

Am 25.06.1945 von Chemnitz Hauptbahnhof nach Glauchau. Von Glauchau nach Schlunzig [42 km] Weiter nach Berthelsdorf [Ort im ehem. Landkreis Rochlitz vor dem Krieg ca. 600 Einwohner] zu Bauer Voigt.

Am 29.06.1945 zurück nach Schlunzig zur Brücke, um in die amerikanische Zone zu kommen. Ohne Erfolg, die Russen ließen uns nicht durch. Dieter ist erkrankt. Die beiden Familien, mit denen wir zusammen waren, sind am 30.06.1945 zur Silberstraße, um über die Grenze zu kommen. Ich bin zurück nach Berthelsdorf.

Am 07.07.1945 nach Crossau [ehem. Landkreis Rochlitz] Im Lager geschlafen – 2 Ungarinnen getroffen.

Am 08.07.1945 nach Zwickau – nicht über die Mulde gekommen [die Zwickauer Mulde ist ein Fluss im Südwesten Sachsens]. In der Nacht um halb 12 hätte uns der Russe herübergelassen, wenn wir vorher mit ihm „geschlafen“ hätten. Frau Köhler habe ich kennengelernt. Mit ihr und ihren 2 Kindern sind wir weitergezogen.

Am 09.07.1945 von Zwickau nach Gutenfürst. [60km, Gutenfürst war zu dieser Zeit der Grenzort zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone. Später dann Grenzbahnhof zwischen der BRD und DDR]. Abends um halb 9 dort angekommen, in der Scheune geschlafen, am anderen Tag zur Grenze gezogen. An der Schnellstraße angehalten.

Am 10.07.1945 haben uns die Russen erst zur Grenze gelassen, dann zurückgetrieben.

Am 11.07.1945 wurden wir noch weiter zurückgetrieben in den Wald – es hat gegossen. Wir – ganze Menge von Flüchtlingen – waren in einem alten Autobus eingepfercht.

Am 12.07.1945 alle mußten 3 km zurück – im Wald geschlafen. Nichts mehr zu essen.

Am 13.07.1945 zur Grenze 7 km vorgetrieben, bis nachmittags stehen gelassen, abends 2 km zurückgetrieben. Neben Misthaufen geschlafen.

Am 14.07.1945 weitere 3 km zurückgetrieben, auf einer Wiese gehaust bis 16.07.1945 ohne Essen – Hunger! Abends hieß es, alle Menschen wieder zur Grenze und dann wieder 5 km zurück. Im Regen um 10 Uhr am Abend in ein Dorf gekommen. Dieter schwer krank.

Am 17.07.1945 mit Dieter zum Arzt nach Bobenneukirchen [12 km]. Bei Familie Sünderhauf untergekommen. Dieter geht es schlecht, auch Siegfried hat schlimm Durchfall.

Am 21.07.1945 nach Ölsnitz [Oelsnitz/Vogtl. 15 km] ins Krankenhaus auf einer Kutsche mit Dieter gefahren, fragen ob Platz ist.

Am 22.07.1945 bin auch ich sehr erkrankt, bin gelegen, neben mir der kranke Siegfried und Dieter.

Am 23.07.1945 zu Fuß 15 km nach Ölsnitz ins Krankenhaus, Dieter dort gelassen. Mit Siegfried im Gasthaus „Zur Quetsche“ an Stroh geschlafen. Am anderen Tag Quartier gefunden bei Frau Rieck, Albert-Str. 7 im Dachgeschoß. Alle Tage ins Krankenhaus Dieter besuchen. Es geht ihm immer gleich. Niemand gibt Hoffnung, ob so oder so.

Am 27.07.1945 Stube ausgespritzt gegen Wanzen. Mit Siegfried beim Arzt gewesen, kleiner Hodenbruch

Am 28.07.1945 geht es Dieter sehr schlecht – Lebensgefahr. Ich bin verzweifelt.

Am 29.07.1945 waren wir dreimal im Krankenhaus, es geht dem kleinen Dieterle etwas besser. Ich habe wieder Hoffnung auf seine Genesung.

Am 30.07.1945 ist unser kleiner Dieterle um 1.00 Uhr nachts verstorben. Ich bin sehr unglücklich, niemanden von meinen Lieben habe ich bei mir, damit das Leid geteilt werden könnte. Siegfriedl ist noch zu klein. Alles muß ich alleine tragen, verlassen unter den fremden Menschen.

Am 28.08.1945 das erste Mal versucht nach Tetschen [Děčín in der Tschechischen Republik, der Ort von dem sie vertrieben wurde]. Ich stand mit Siegfried in Herrnskretschen [Hrensko Grenzort zur heutigen Tschechischen Republik] bei den Tschechischen Posten, aber vergebens.

Das zweite Mal habe ich es am 07.09.1945 versucht. War in Dresden am Konsulat, aber auch vergebens.

 

Erst nach dem Fall der Mauer hatte meine Mutter mit meinem Vater die Gelegenheit, den Platz des Grabes meines Bruders zu besuchen.

© Geschrieben von Brigitte Reber

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